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Das Zauberbuch
"Wie bist Du eigentlich in unser Schloss gekommen?" wunderte sich die Prinzessin und sah zum Zauberer hinüber. Sie saßen auf der Wiese vor einem kleinen Pavillion am Waldrand. An diesem schönen Sommertag hatte die Prinzessin dem Zauberer und dem Schnuffelchen ein Picknick versprochen. "Ist das denn so wichtig?" fragte der Zauberer. "Ja!" rief das Schnuffelchen und hüpfte ihm auf den Schoß. "Erzähl uns eine Geschichte." "Ich spreche nicht gerne darüber." murmelte der Zauberer. "Aber wenn Ihr es wissen wollt, werde ich es Euch erzählen. Du bist jetzt alt genug und kennst die Welt." Das Schnuffelchen fühlte sich geschmeichelt, auch wenn es nicht so genau wusste, was der Zauberer damit meinte. Tatsächlich meinte er damit die Prinzessin. "Es war einmal vor sehr langer Zeit, hier in diesem Land. Es gab einen König, Deinen Urgroßvater." begann der Zauberer und sah zur Prinzessin. "Damals waren die Menschen in den Bergtälern verstreut und wussten kaum voneinander. Dämonen beherrschten viele Teile der Welt, und die Zauberer brachten die Welt dort ins Gleichgewicht, wo böse Mächte ihr Unwesen trieben. In den Bergen lebten viele kleine Schnuffelchen, die viel Gutes taten und den Menschen eine Freude waren. Zu dieser Zeit gab es einen mächtigen Zauberer, der mein Meister wurde. Ich war damals noch ein Junge und wurde sein Zauberschüler. Mit mir hatten einige andere die Lehre begonnen. Einer davon war ein junger Graf. Graf von Ruffeck. Er hatte Spaß am Leid anderer, er verfolgte Mensch und Tier und auch die Schnuffelchen. Sie nannten ihn den Grafen Schnuffelscheck." "Ahhh! Graf Schnuffelschreck?! Oh, oh, oh..." rief das Schnuffelchen und vergrub sich im Gewand der Prinzessin. "Er war ein schlechter Mensch. Nur Böses hatte er im Sinn. Und die Zauberei wollte er nur erlernen, um mit magischen Tricks die Leute zu beeindrucken und zu betrügen. Mein Meister aber erkannte sofort, das der junge Graf nichts taugte und stellte ihn immer wieder vor schwierige Aufgaben, bis uns der Graf schließlich unter Zorn verließ. Er schwor Rache und schrie, er würde eines Tages das Zauberbuch besitzen, durch dessen Inhalt man die Macht der Zauberei und Unsterblichkeit erlangen kann." Die Prinzessin hatte den alten Zauberer selten so angespannt und besorgt gesehen wie jetzt, als er diese Geschichte erzählte. "Ein Leben ohne Hingabe ist kein Leben. Und eine Zaubererlehre bedeutet absolute Hingabe. Sie dauert Jahrzehnte. Am Ende kann jeder Zauberer sein Wissen in seinem eigenen Zauberbuch aufschreiben lassen. Dann zieht er durch die Welt und sucht nach einem Ort, an dem seine Dienste benötigt werden. Auch ich bin diesen Weg gegangen. Einige Jahre nachdem wir den Meister verlassen hatten, erhielt ich die Botschaft von einem Überfall mit schrecklichen Folgen. Mein Meister war vom Grafen von Ruffeck überfallen worden und er hatte das Zauberbuch mitgenommen. Sofort eilten einige der Schüler und ich zu unserem Meister, doch er war alt und ohne sein Zauberbuch konnte er sich nicht mehr von dem Überfall erholen. Auf dem Sterbebett schworen wir ihm, das geschehene Unrecht wieder gutzumachen. Die letzten Worte meines Meisters war eine Vorsehung. Er sagte, nur durch die Hand eines Königs werde der Graf zu Fall gebracht werden können. Graf von Ruffeck nutzte den Besitz des Buches schamlos aus. Er unterdrückte das Volk im Tal und bestrafte jeden, der seine Macht nicht anerkennen wollte. Selbst der König musste tatenlos zusehen, wie Graf von Ruffeck regierte. Wie konnte er den Grafen stoppen? Es schien unmöglich, dass sich die Vorsehung erfüllen würde. Einmal im Jahr trat der böse Graf auf den Balkon seines Stadthauses und zeigte der versammelten Menge das Zauberbuch, damit jeder sehen konnte, dass es immernoch in seinem Besitz war. Danach versteckte er es wieder in seiner Schatzkammer und nur er selbst hatte Zugang zu ihm. Wir jungen Zauberer waren nicht mächtig genug, um es mit den Sprüchen aus dem Buch unseres alten Meisters aufzunehmen. Also mussten wir uns eine List ausdenken. Als es wieder einmal Sommer geworden war, versammelte sich das Volk in der Stadt, denn es war der Tag gekommen, an dem der Graf das Buch zeigen würde. In der Menge warteten auch wir Zauberer vor seinem Haus." Der Zauberer machte eine Pause und schüttelte gedankenverloren den Kopf. Es war ihm anzusehen, wie groß die Qualen gewesen sein mussten, die er damals durchlebt hatte. Was auch immer geschehen war, er würde es wohl nie vergessen können. Mit traurigem Blick streckte er die Hand aus und streichelte das Schnuffelchen, das ängstlich aus dem Schoß der Prinzessin zu ihm aufblickte. Dann fuhr er fort: "Der Graf betrat den Balkon und hob das Buch hoch über seinen Kopf, damit es alle sehen konnte. Dazu rief er 'Sehet, ich habe die Macht, denn ich bin der Gute, an den Ihr Euch halten sollt. Verderben über alle Zweifler!' In der Menge stand ein kleiner Junge. Er nahm eine Steinschleuder und eine Eichel aus der Tasche und als der Graf gerade zuende gesprochen hatte, schoss er ihm mit aller Kraft an den Kopf. Der Graf schrie und hielt sich die Stirn. Dabei ließ er das Buch fallen. Es lag auf der Straße vor seinem Haus. Die Menge erstarrte. Niemand hatte bisher so etwas gewagt. Sofort erkannte der Graf die Gefahr, denn ohne das Buch war er machtlos. Er stürzte sich vom Balkon, um das Buch unter allen Umständen wieder an sich zu bringen. Da trat ich aus der Menge. Ich streckte meine linke Hand aus und hielt den Grafen mit meiner Zauberkraft in der Luft, so dass er etwa 5 Ellen über dem Boden schwebte. Er strampelte und schimpfte, aber seine Arme waren nicht lang genug, um das Buch zu erreichen. Dann traten meine Kameraden aus der Menge. Sie hatten sich mit Kapuzen getarnt, um nicht sofort aufzufallen. Nun bildeten wir alle einen Kreis um den bösen Grafen und das Buch." Die Stimme des Zauberers begann zu zittern, als er weitererzählte: "Wir streckten unsere Arme gen Himmel und taten, was ein Zauberer niemals tun darf: Wir riefen einen Dämon!" "Aber ist das denn so gefährlich? Gibt es denn nicht auch liebe kleine Dämonen?" fragte die Prinzessin. "Nein!!! Oh nein! Ein Dämon ist böse. Er ist viel böser als ein Mensch jemals sein kann. Findet ein Dämon ein Land, das noch nicht von einem anderen Dämon beherrscht wird, so besetzt er es und bringt Leid und Untergang über die Menschen. Er ist die Ursache von Krieg, Pest und Hunger. Ihn zu rufen ist genau das Gegenteil von dem, was ein Zauberer lernt. Ich werde mir diese Tat niemals verzeihen..." Der Zauberer wurde sehr traurig. "Wir riefen also den Dämon an, und über der Stadt verfinsterte sich der Himmel. Ein Gewitter zog auf und in der dunklen Wolke über uns war das Grollen des Dämons zu hören. Wir wussten nicht, ob wir gemeinsam stark genug sein würden, um ihn zu kontrollieren. Allein wäre ich ihn nie wieder losgeworden. Und dann tat ich, was ein Zauberer auch niemals tun darf: Ich konzentrierte meinen ganzen Zorn auf den Dämon. Nur so ließ sich überhaupt Kontakt zu ihm herstellen. Und mit dem Zorn in der Brust schrie ich einen finsteren Zauber in die Wolke über uns. Nie, nie, nie darf ein Zauberer so handeln. Aber wir waren jung und dachten nicht darüber nach, dass es vielleicht auch einen friedlichen Weg gegeben hätte." "Was ist denn dann passiert?" drängelte die Prinzessin. "Nun erzähl doch schon." "Es knisterte in der Wolke, es grollte, und mit einem ohrenbetäubenden Krach schoss ein greller Blitz herab auf den Grafen, der immernoch in der Luft schwebte. Der Blitz durchfuhr sowohl ihn als auch das Buch am Boden und nahm sie beide mit in die Tiefe der Erde. Nur ein dampfendes Loch blieb an der Stelle zurück!" Der Zauberer war so mitgenommen, dass er ausser Atmen war, nachdem er das alles erzählt hatte. "Nie werde ich vergessen können, was ich getan habe. Aber das Land war von da an befreit. Der König regierte wieder und der Graf war verschwunden." "Das ist doch sehr gut." freute sich die Prinzessin. "Und wie bist Du nun zu uns gekommen? Das war doch meine Frage." "Ja. Der Junge, der die Eichel geschossen hat. Dieser Junge war Dein Großvater. Und als Dank bot er mir an, mich hier im Schloss aufzunehmen. Seitdem diene ich Deiner Familie." "Oh, das ist aber liebselig von Dir!" jubelte das Schnuffelchen und hüpfte auf die Schulter des Zauberers. "Dafür bekommst Du das" sagte es und gab ihm einen dicken Kuss auf die Backe. "Danke, dass Du Graf Schnuffelschreck weggezaubert hast!" Zur Prinzessin gewand sagte der Zauberer: "Die alte Eiche auf dem Marktplatz zeugt heute noch von dem Ereignis damals. Dort ist alles geschehen." |