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Die Weisheit des Zauberers

Schon früh morgens stand die Prinzessin an diesem Tag auf. Das Schnuffelchen zog sich die Bettdecke bis über die Augen und knurrte jedesmal, wenn die Prinzessin es hochheben wollte. Was nur los war?

"Schnuffelchen, wir gehen heute zum Markt. Wenn Du brav bist, kannst Du Dir dort etwas Feines zum Naschen aussuchen" flüsterte die Prinzessin unter die Decke. "Ahhhh, schlapsel schlapsel! Warum hast Du das nicht gleich gesagselt?" rief das Schnuffelchen und hüpfte auf der anderen Seite des Bettes unter der Decke hervor.

"Sei leise, sonst hören Dich die Leute im Schloss" ermahnte es die Prinzessin. Das Schnuffelchen war ihr großes Geheimnis. Niemand durfte wissen, dass es bei ihr war. Niemand, ausser dem Zauberer.

Es war ein kalter Morgen. Der Nebel stand noch auf den Wiesen, als der Zauberer mit seinem Holzstock den Bock des Wagens bestieg und den Pferden die Peitsche gab. Holprig setzten sie sich in Bewegung.

Das Schnuffelchen krabbelte dem Zauberer von hinten auf die Schulter und hüpfte von dort aus neben ihn auf den Sitz. "Schnuffelmorgen!" wünschte es. Der Zauberer brummelte in seinen Bart. Scheinbar war er noch nicht ganz ausgeschlafen.

Auf dem Markt trug die Prinzessin einen Korb mit einem Tuch, der die Waren bedeckte. Tatsächlich tat sie es, um das Schnuffelchen zu verbergen. Jedes Teil, dass in den Korb kam, wurde vom Schnuffelchen sofort untersucht.

Da konnte es schon einmal passieren, dass die eine oder andere Rübe schnell wieder den Weg nach draussen fand, wenn das Schnuffelchen seinen Platz im Korb in Gefahr sah oder Hunger auf Schokolade hatte. Um vorzubeugen steuerte die Prinzessin deswegen immer zuerst den Stand des Schokoladenhändlers an.

Er war ein kleiner Mann mit Bauch und einem runden Kopf. Er trug immer einen braunen Mantel und eine weisse Mütze und war leicht zu finden. Mit seinem Karren zog er durch die Berge zu den entlegenen Klöstern, in denen der Sage nach die Schokolade noch nach den ältesten Rezepten hergestellt wurde. Das Schnuffelchen war sich sicher, dass die Rezepte ursprünglich von den Schnuffelchen stammten. Aber sein einziger Beweis war die angeblich unübertroffene Verträglichkeit der Klosterschokolade, die seinem Fell ein besonders schönes Braun gab.

Heute, am Markttag, war der Händler natürlich zur Stelle, um seine Schokoladen in Barren zu je einem Pfund anzubieten. "Es ist mir eine Ehre, Majestät, womit kann ich Euch dienen?" hörte das Schnuffelchen von draussen und wusste sofort, wo es war. "Gugugage..." wisperte das Schnuffelchen aus dem Korb, das Geheimwort für Schokolade. "Ich bin auf der Suche nach erlesenen Schokoladen-Spezialitäten für den Hof." bestellte die Prinzessin und gab dem Korb einen Stubs, damit das Schnuffelchen sich nicht durch sein vorlautes Verhalten verriet.

"Hier habe ich feinste Barren aus den Klöstern der umliegenden Berge" warb der Schokoladenhändler. "Eigentlich ist es ein Wunder, dass Ihr sie heute probieren könnt, denn der Weg dorthin ist so gefährlich, dass ich nie weiss, ob ich überhaupt zurückkehren werde."

Die Prinzessin nahm ein Stück und ließ unauffällig ein paar Krümel in den Korb fallen, wo sie vom Schnuffelchen geprüft wurden. War die Schokolade in Ordnung, kaufte die Prinzessin etwas, wenn nicht, hustete das Schnuffelchen leise und sie gingen weiter. Dieses Ritual wiederholte sich jedesmal auf dem Markt.

Plötzlich hörte die Prinzessin lautes Geschrei. Sie beobachtete ein paar Jungen, die jemanden auslachten und herumrannten. Es war der alte Zauberer, der auf dem Marktplatz stand und geärgert wurde.

"Ein Zauberer willst Du sein, alter Mann! Hahaha! Dann zaubere Dir ein neues Gewand." lachten die Jungen und rissen einen Ärmel entzwei. Die Prinzessin schritt sofort ein: "Fort mit Euch." rief sie und die Jungen verschwanden in der raunenden Menge die herumstand.

"Diese Jungen sollte man bestrafen" tröstete die Prinzessin den Zauberer. Doch dieser murmelte "Ach lass nur." Sie setzten sich auf eine Bank und betrachteten den Platz. "Eigentlich haben sie gar nicht so unrecht. Warum trägst Du keine besseren Gewänder?" fragte die Prinzessin nach einer Weile.

"Ich brauche nicht mehr" antwortete der Zauberer. "Dieses einfache Gewand erfüllt seinen Zweck seit vielen Jahren."

"Aber nun ist es zerrissen. Nun wird es Zeit für eines Neues." sagte die Prinzessin hoffnungsvoll und deutete auf den Riss im Ärmel. Der Zauberer lächelte "Ach was, da ist doch gar nichts" und strich mit seiner Hand über den Ärmel. Der Ärmel war wieder wie neu.

Die Prinzessin grinste: "Ist das ein Zaubermantel?" "Nein, das ist ein ganz normales Leinentuch" "Aber was werden die Leute sagen? Alle denken doch, der Ärmel ist zerrissen." gab die Prinzessin zu bedenken. Das sah auch der Zauberer ein. Er legte die Hand auf den Ärmel, schloss kurz die Augen, und als er die Hand wieder wegnahm, war an der Stelle eine Naht, die den Ärmel zusammenhielt.

Auf der Heimfahrt setzte sich die Prinzessin auf den Kutschbock. Sie zupfte an der Naht am Ärmel des Zauberers herum. "Zaubere nochmal mit dem Mantel" bat ihn die Prinzessin. "Das geht nicht." "Warum nicht?" ärgerte sich die Prinzessin. "Weil ich keine Kunststückchen zaubere. Ich bin kein Unterhaltungskünstler."

"Aber wann zauberst Du denn dann?" "Nur wenn es sein muss. Und das ist äusserst selten." knurrte der Zauberer. Doch die Prinzessin ließ nicht locker. Sie versuchte ihn zu provozieren: "Wenn Du nicht zauberst, brauche ich auch keinen Zauberer. Wozu haben wir Dich?"

Der Zauberer erkannte die Herausforderung. Er hob seine dicken Augenbrauen leicht an und erklärte: "Es gibt zwei Arten von Zauber, den bösen und den guten. Der gute Zauber geschieht unbemerkt. Er hält die Welt im Gleichgewicht. Der Böse dagegen ist Magie, er bringt Verderben."

"Aber Zauberer, warum hast Du Dich denn nicht gegen die Jungen gewehrt. Du hättest doch wenigstens Dein Gewand vor ihren Augen flicken können. Ich bin mir sicher, dann wären sie nicht so respektlos zu Dir gewesen."

"Ja, aber bedenke die Folgen" erwiderte der weise Zauberer.

"Ich kann den Gang der Welt nicht ändern. Es ist die Jugend, die sie respektlos sein lässt. Sie sind deswegen keine schlechten Menschen. Hätte ich ihnen meine Macht gezeigt und den Riss weggezaubert, wären sie neidisch gewesen, hätten mich um immer neue Beweise gebeten, die Leute hätten bald alte Gewänder gebracht, damit ich sie repariere. Und die Schneider im Ort wären ohne Brot geblieben. Das hätte Aufruhr verursacht, vielleicht wären fremde Mächte gekommen, um mich für ihre Feldzüge zu gewinnen, und schließlich hätte es wer weiss wo geendet..."

"Aber hast Du denn gar keinen Stolz?" gab die Prinzessin zu bedenken. "Stolz ist ein Luxus, den niemand braucht. Warum sollte ich sie beeindrucken wollen? Lass sie doch glauben, einen alten Mann geärgert zu haben. Sie haben nichts bewirkt."

Mit diesen Worten strich der Zauberer über den Ärmel, und wieder war der Ärmel wie neu. Die Naht war verschwunden. Plötzlich grinste er spitzbübisch zur Prinzessin hinüber und strich über den Ärmel ihres Mantels. Eine lange und sehr unprofessionelle Naht hielt ihn dort zusammen, wo Sekunden vorher noch feinster Zwirn gewesen war.

"Aber..." die Prinzessin zog erschrocken den Arm zurück. Der Zauberer lachte und sagte "Klopf es aus, klopf es aus." Sie klopfte zögernd mit der Hand auf den Ärmel, und die Naht zerfiel zu Staub, den sie leicht abklopfen konnte.

Der alte Mann hob seinen Zeigefinger und legte ihn auf die Lippen. Er wollte nicht, dass die Prinzessin seinen kleinen Spass überall herumerzählte.

Von alldem erfuhr das Schnuffelchen nichts. Es lag friedlich zwischen den Waren auf dem Wagen und schlief neben einem angeschleckten Schokoladenbarren. Sein Bauch war dick und rund und seine Farbe so schön braun wie immer nach einer großen Schokoladenmahlzeit.