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Das Schnuffelchen kommt an

Es war einmal, vor langer Zeit in einem kleinen Königreich nicht weit von hier. Im Schloss war nach einem warmen Sommertag endlich Ruhe eingekehrt, und der Mond stand voll und hell am sternenklaren Himmel.

Es war Nacht. Die Prinzessin, das einzige Kind des Königspaares, drehte sich in ihrem Bett von einer Seite auf die andere. Es war zu warm. Selbst jetzt, wo der kühle Nachtwind durch die offenen Fenster blies, konnte sie nicht einschlafen.

Manche Menschen sagen, der Vollmond habe eine Wirkung auf die Menschen und alle anderen Lebewesen. Vielleicht fand die Prinzessin deswegen keine Ruhe.

Es musste schon bald Mitternacht sein. Nicht, dass die Prinzessin sich hätte fürchten müssen, aber allmählich wurde es ihr zu langweilig im Bett.

Also stand sie auf und ging den langen Flur vor ihrem Zimmer entlang, durch die Halle, in den anderen Flügel des Schlosses, und schließlich die unzähligen Stufen des Westturmes hinauf, bis vor die alte Holztür, die den Eingang zum Zimmer des alten Zauberers verSchloss. "Vielleicht", so dachte sie sich, "kennt er ein Mittel, damit ich schlafen kann."

Auch der Zauberer war noch auf. Als er auf ihr Klopfen antwortete und sie eintrat, fand sie ihn in einer unbequemen Haltung über ein dickes Buch gebeugt vor. Neben ihm standen auf dem Boden Gefäße, und am Fenster brannte ein Feuer, über dem an einem Dreibein ein Topf hing.

"Ich kann nicht einschlafen" sagte die Prinzessin. "Ich auch nicht" antwortete der Zauberer zu ihrem Erstaunen. "Ich vertreibe mir die Zeit mit meinen Büchern.

Kommt, setz Dich zu mir, wenn Du willst. Ich habe in meiner Truhe ein sehr altes Zauberbuch gefunden, und ich will ein Rezept kochen, das ich noch nicht kenne." Die Prinzessin war hocherfreut und rief: "Oh, hilft das gegen Schlaflosigkeit?", doch der Zauberer schüttelte den Kopf. "Nein, ich weiß nicht, wozu das Rezept dient."

Die Prinzessin wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Einerseits war sie enttäuscht, denn der Zauberer hatte kein Schlafmittel für sie.

Andererseits hatte sie nun wenigstens etwas, womit sie sich ihre Zeit vertreiben konnte. "Die Zauberer sind auch nicht mehr, was sie mal waren" murmelte sie und setzte sich zum Feuer auf den Boden.

Der Zauberer hob seine buschigen weißen Augenbrauen ein wenig, tat aber so, als habe er nichts gehört. Dann wandte er sich wieder seinem Buch zu.

"Warum deutest Du eigentlich mit einem Holzstock im Buch herum, während Du liest?" wollte die Prinzessin wissen. "Damit ich die Zeilen nicht verliere." erklärte der Zauberer, "Es ist nicht leicht, diese alten Rezepte zu entziffern."

Die Prinzessin dachte bei sich "Wahrscheinlich will er wie ein richtiger Zauberer aussehen, und das da soll sein Zauberstab sein", doch sie sprach es nicht aus.

Der Zauberer hob den Kopf und in seinem alten Gesicht funkelten seine Augen wie die eines jungen Mannes. "Das IST mein Zauberstab" knurrte er langsam, bevor er sich wieder seinem Buch zuwandte, ohne auf eine Antwort zu warten.

Die Prinzessin sagte nichts. Sie fühlte sich ertappt. Woher konnte er wissen, was sie gedacht hatte? Sie versuchte, nicht mehr zu denken.

Mit offensichtlicher Begeisterung schüttete der Zauberer verschiedene Zutaten in den Topf. "Wie heißt das Rezept?" wollte die Prinzessin wissen. "Es heißt wohl 'Schnuffelini' oder so ähnlich. Jedenfalls würde ich es so übersetzen. Das Buch ist an dieser Stelle etwas ungenau."

" 'Schnuffelini' ", wiederholte die Prinzessin, "und wofür ist das?" - "Es lockt, wenn ich es richtig verstehe, Wesen an, die es hier früher einmal gegeben haben soll. Es funktioniert aber nur bei Vollmond."

Die Prinzessin versuchte, nicht daran zu denken, wie unwahrscheinlich sie es fand, dass gerade in dieser Nacht im höchsten Turm des Schlosses fremde Wesen erscheinen würden, nur weil der Zauberer etwas kochte, was wie Nudelsuppe roch.

"Wieso riecht das denn jetzt so?" fragte die Prinzessin. Der Zauberer begann mit einem langen Holzlöffel im Topf zu rühren und schmunzelte, soweit man das unter seinem Bart erkennen konnte: "Ich habe einige Zutaten hier aus meiner Kammer genommen. Einige Sachen habe ich mir aber aus der Küche geholt. Das Gebräu ist wahrscheinlich sogar essbar."

"Vielleicht ist es der Vorfahre von Tortellinis. So riecht es jetzt." bemerkte die Prinzessin. Und tatsächlich gab der Zauberer jetzt Käse in den Topf, der langsam schmolz und eine helle, zähe Soße ergab.

Der Wind trug den Rauch und den Dampf der Feuerstelle durch den Raum, und wären nicht auch hier die Fenster weit geöffnet gewesen, die Kleider der beiden hätten bald stark nach Essen gerochen.

Der Zauberer rührte und rührte und sah dabei immer wieder in den Topf. Es waren keine Zutaten mehr übrig. Die Prinzessin sah ihm lange zu. Schließlich machte der alte Mann ein Hohlkreuz und streckte sich: "So, fertig."

Die Prinzessin rutschte ganz nah an den Topf, bis sie dem Zauberer gegenüber saß. Von beiden Seiten sahen sie nun über den Rand auf die Masse, die da auf dem Feuer blubberte. "Und da kommen jetzt die Wesen raus?" wollte die Prinzessin wissen. "Ich weiß nicht recht", antwortete der Zauberer, "Ich habe alles gemacht, was im Buch stand." Er wirkte ein bisschen enttäuscht.

Leise knisterte des Feuer unter dem Topf. Es knistertete und knackte, dann schien es zu schnauben, zu keuchen. Die Prinzessin wurde auf das Geräusch aufmerksam. Der Zauberer erstarrte und legte leise den Finger auf seine Lippen. Aus dem Augenwinkel nahmen sie am Fenster eine Bewegung wahr. Als sie die Köpfe drehten, erkannten sie am Fensterbrett zwei kleine Hände, die auf dem glatten Stein Halt suchten. Der Zauberer hielt vorsichtig seinen Zauberstab hin, so dass sich, was immer dort herauf wollte, daran festhalten konnte. Er zog den Stab langsam zu sich. Dann waren alle ganz still - alle drei.

Das Wesen war mindestens so erstaunt wie die Prinzessin. Es machte große Augen und rührte sich nicht von der Stelle. Die ganze Gestalt war nicht größer als 15 cm. Es hatte zwei Arme, aber keine Beine, es saß scheinbar auf seinem dicken Bauch. Es war überall von braunem Fell bedeckt und auf dem Kopf trug es einen längeren Haarschopf. Es rollte die Augen und machte ein Geräusch, als würde es intensiv schnuppern. Seine kleinen roten Lippen schob es dabei von einer Seite zur anderen.

"Was ist das?" fragte die Prinzessin im Flüsterton. "Keine Ahnung" antwortete der Zauberer. Das Wesen fixierte die Prinzessin. Beide schauten sich in die Augen. Dann erschrak die Prinzessin, denn das Wesen machte ein Geräusch, das nicht zu deuten war. Es klang, als würde man den Buchstaben H und M hintereinander aussprechen, ohne dabei die Lippen zu öffnen.

"Es hat 'hm!' gesagt", stellte die Prinzessin hilflos fest. Das Wesen hörte die Worte und bekam ein fröhliches Gesicht. Es rutschte mit seinem Bauch näher zur Prinzessin heran. Dann öffnete es leicht den Mund, blickte die Prinzessin von unten herauf an und sagte "Schlapsel, schlapsel?"

Das Gesicht der Prinzessin zeigte das ganze Ausmaß ihres Erstaunens. Der Zauberer begann zu grinsen und deutete vorsichtig in den Topf. "Ich soll es da rein werfen?" fragte die Prinzessin empört. "Nein, Du sollst ihm etwas anbieten" beruhigte sie der Zauberer und reichte ihr eine der kleinen Schalen, in denen er die Zutaten aufbewahrt hatte. Sie füllte die Schale mit etwas heller Soße und schob sie dem Wesen entgegen.

Das kleine Wesen begann sofort, den Rand abzulecken. Sein Kopf wanderte immer weiter in die Schale. Es schmatzte und nach kurzer Zeit war die Schale leer. Die Prinzessin konnte seine kleine rote Zunge sehen, mit der es sich die Lippen leckte. Scheinbar wollte es noch mehr haben. Der Zauberer füllte zwei weitere Schalen, und alle drei saßen nun um das Feuer und probierten das Rezept. Sie hatte recht gehabt: Es schmeckte fast wie Tortellinis mit Käse-Sahne-Soße.

Nach dieser Portion kletterte das Wesen auf das Knie der Prinzessin, und machte sich so lang, wie es seine pummelige Figur zuließ, um über den Rand des Topfes zu gucken. Schließlich nahm sich die Prinzessin ein Herz und hob es hoch. Jetzt merkte sie erst, dass es für seine Größe ein nicht zu unterschätzendes Gewicht hatte.

Zielstrebig ergriff das Wesen den langen Holzlöffel und begann, gleich aus dem Topf zu essen. Der Zauberer lachte und holte zwei weitere Holzlöffel. Alle drei aßen nun um die Wette aus dem Topf, bis er leer war.

Dann legte sich das Wesen auf den Schoss der Prinzessin und seufzte, als wäre es ein Mensch, ein sehr glücklicher Mensch. "Aber was bist Du denn nur?" fragte sie Prinzessin, ohne eine Antwort zu erwarten. Das Wesen öffnete die Augen und sah sie an: "Ich bin ein kleines Schnuffelchen" sagte es klar und deutlich mit einer hellen Stimme.

Die Prinzessin konnte es nicht fassen. "Aber wieso kannst Du denn sprechen?" wollte sie wissen, "Und wo kommst Du her?" Doch das Schnuffelchen kuschelte sich an ihren Bauch, Schloss die Augen und murmelte "Liebhabseln." Dann schien es einzuschlafen.

"Was soll ich denn jetzt machen?" Die Prinzessin sah den Zauberer hilflos an. "Nimm es doch mit zu Dir. Es ist doch Dein Schnuffelchen." sagte der Zauberer und lächelte zufrieden. Er war auch glücklich. Sein Rezept hatte funktioniert.

Aber es gab noch viele Dinge, die er nicht wusste. Zum Beispiel, warum nur ein Schnuffelchen erschienen war. Im Buch war von vielen Wesen die Rede gewesen. "Gut, dass das Schnuffelchen sprechen kann" dachte sich der Zauberer, und er nahm sich vor, es am nächsten Tag zu befragen.

Die Prinzessin hob das Schnuffelchen vorsichtig hoch, verabschiedete sich, und trug es die Treppen hinunter, durch die Halle und den Flur bis zu ihrem Zimmer. Dann legte sie es ebenso vorsichtig in ihr Bett, deckte es zu, legte sich daneben, und mit einem letzte Blick auf dieses merkwürdigste Wesen, das sie jemals im ganzen Land gesehen hatte, schlief sie ein.